Vergabepraxis & -recht.
VPR 02/2022 - Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Kostenschätzung ist als ein der eigentlichen Ausschreibung vorgeschalteter Vorgang mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten behaftet. Sie ist eine Prognose, die sich unter Berücksichtigung aller verfügbaren Daten ernsthaft, realistisch, vollständig und objektiv an den Marktgegebenheiten orientieren muss. Nach Ansicht des OLG Koblenz ist eine Auftragswertschätzung deshalb unvertretbar, wenn als Schätzungsgrundlage ein Vorjahreswert angenommen wird, der nach der Marktlage zum Zeitpunkt der Ausschreibung bereits derart verfallen ist, dass die Bieter ihren Gewinn zumindest auch mit den Handlingkosten erwirtschaften müssen ( S. 58).
Die Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens müssen klar, präzise und eindeutig formuliert werden, so dass einerseits alle mit der üblichen Sorgfalt handelnden Unternehmen die genaue Bedeutung dieser Bedingungen und Modalitäten verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und andererseits der Auftraggeber tatsächlich überprüfen kann, ob die Teilnahmeanträge oder Angebote die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen. Nicht mehr eindeutig sind Vergabeunterlagen, wenn fachkundigen Unternehmen auch nach Auslegungsbemühungen mehrere Auslegungsmöglichkeiten verbleiben. Das OLG Schleswig weist darauf hin, dass derart unklare Vorgaben nicht zu Lasten der Bieter gehen dürfen ( S. 71).
Ein öffentlicher Auftrag ist unwirksam, wenn wesentliche Vertragsänderungen freihändig vorgenommen werden. Dem OLG Schleswig lag ein Vertrag über Schülerbeförderungsleistungen mit einer bis zum Ende des Schuljahres festgelegten Laufzeit vor, der eine Verlängerungsklausel für zwei Jahre enthielt. Die Vertragspartner wollten diese Verlängerungsoption mehrfach nutzen. Das OLG Schleswig erteilte dem eine Absage und stellte klar, dass die Verlängerung von Verträgen mit befristeter Laufzeit, bei denen das Zeitmoment ein wesentliches Element der geschuldeten Leistung ist, eine erhebliche Ausweitung des Leistungsvolumens als wesentliche Vertragsänderung und damit als neuer Beschaffungsvorgang zu werten ist ( S. 73).
Auch alle anderen Beiträge empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit.
Mit den besten Grüßen
Ihr
Stephan Bolz
Rechtsanwalt
Schriftleiter der VPR