ibr-online Blog-Eintrag

Bauzeitgutachten, die das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Baubetriebslehre beschädigen

Liebe Leser:innen, lieber Herr Usselmann,

wenn Ihnen die Schwierigkeiten und Fragwürdigkeiten des Jahres 2023 - nicht nur an dieser Stelle - zu viel werden, sind Sie selbstverständlich frei, sich weiterzuklicken. So kurz vor der Zeit, die wahrscheinlich nicht nur mich in einen Zustand des Besinnens locken möchte, durchatmen, die Gedanken kommen und gehen lassen möchte ..... Entschuldigung! Aber das eine möchte ich noch loswerden:

Der Soll-0-Bauablauf müsse im Netzplan rechenbar sein. Das ist eine in der Literatur und der Gutachtenpraxis grundlegende Forderung an eine Störungsmodifikation. Meine Antwort darauf lautet: Eine - zumal in ihrem starren Netz (Netzplan) - "gerechnete" Störungsmodifikation verliert den Boden unter den Füßen.

Sie schliddert buchstäblich am Ist-Bauablauf mit all seinen Behinderungswirkungen vorbei, wenn sie ihre Zwischenergebnisse nicht Schritt für Schritt, Behinderung für Behinderung in jedem Modifikationsschritt an der Wirklichkeit (tatsächlicher Bauablauf) überprüft; näher hier.

Werden die Hypothesen der einzelnen Schritte (Störungen) aber im Ist-Ablauf überprüft, braucht es eine "Berechnung" nicht. Überhaupt braucht es keine Vorschau auf den weiteren Bauablauf. Wozu, Herr Usselmann, soll der Bauablauf, nachdem eine einzelne Störung in den Fokus genommen und mit Blick auf ihre Folgen untersucht worden ist, inmitten eines komplex gestörten Bauablaufs mit 57 Störereignissen (Ihr Beispiel) bis zum Ende durchgerechnet werden? Wozu, wenn doch klar ist, dass weitere (im Einzelnen zu untersuchende) Störereignisse nachfolgen werden, durch die ein durchgerechneter Bauablauf weiter verändert wird? Ich halte das für eine Irritation in den Anforderungen an eine konkret im tatsächlichen Bauablauf zu führende Störungsmodifikation, beginne aber zu verstehen, warum Sie in ihrer 1. Leseranmerkung "Abstraktionen vs. Hypothesen" (siehe hier) im Schritt "HUT-i, i = 1 - 57" von einem "hypothetisch gestörten tatsächlichen Bauablauf (HGT)", dem bis zum Ende durchgerechneten Bauablauf, sprechen. Dabei teile ich den "KO-Einwand" von Juristen, "dass das ja alles nicht bewiesen, nur hypothetisch" sei.

Und nun?

Die geforderte Rechenbarkeit des Soll-Bauablaufs erübrigt sich, wenn die Zwischenergebnisse eines einzelnen Modifikationsschrittes am Ist-Ablauf überprüft und ggf. korrigiert werden. Die Forderung nach Rechenbarkeit ist anachronistisch. Sie geht auf frühe Literaturmeinungen zurück, als die sogenannte Soll'-Methode (sprich Soll Strich) als Mittel zur Darlegung von zeitlichen Behinderungsfolgen beschrieben und vertreten wurde. In der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte scheitern solche Schein-Nachweise. Ein herausragendes Beispiel dafür wird in der Entscheidung KG "Behinderung, Darlegung ungeeignet" vom 13.02.2009 (7 U 86/08, BauR 2011, 1202) abschlägig besprochen; näher hier; s.a. bei Drittler, Nachträge und Nachtragsprüfung, 4. Auflage 2023, Werner Verlag, Rn. 4:302 ff. Das Scheitern der Methode dürfte an sich nicht verwundern, denn während darin vorne im Soll-Bauablauf zur (vermeintlichen) Analyse "herumgekrümelt" wird, spielt sich der Ist-Bauablauf weiter hinten ab. Die Soll'-Methode bewegt sich fernab der Wirklichkeit, fernab dessen, das tatsächlich gewirkt hat; kritisch auseinandergesetzt in Drittler, a.a.O., Kapitel 4.6.2 b., Rn. 4:382 ff.

Dieses Konzept ohne Wirklichkeitsbezug kursiert auch heute noch in Literatur und Praxis, was für mich schwer zu fassen ist. Eine Störungsmodifikation ohne schrittweise Überprüfung am Ist-Bauablauf, wie sie mit der Soll'-Methode betrieben wird, wird in der Literatur als Fiktion 2. Grades beschrieben. Mit der Soll'-Methode werden lediglich von der Wirklichkeit losgelöste Pseudo-Wirkungen in einem abstrahierenden Modell herausgestellt und nicht als Ergebnis einer schrittweisen Annäherung an das was tatsächlich gewirkt hat.

Vor bald 40 Jahren hat uns der BGH gesagt, dass abstrakte, sich von der Wirklichkeit entfernende Erwägungen kein Recht begründen können. Das vorausgehende Kammergerichtsurteil hat der BGH mit seiner Entscheidung "Äquivalenzkostenverfahren" vom 20.02.1986 (VII ZR 286/84) gekippt. Die seitdem in der Gutachtenpraxis gleichwohl immer wieder angewandte Soll'-Methode folgt dem ersten von zwei Teilen des Äquivalenzkostenverfahrens; näher bereits im Blog-Eintrag vom 13.07.2010.

Störungsmodifikation nach dem Soll'-Verfahren muss aufhören!
Es beschädigt das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Baubetriebslehre.
..... mein Wunsch für das kommende Jahr.

Lieber Herr Usselmann, was Sie aus ihrer eigenen Gutachtenpraxis in ihrer 1. Leseranmerkung schildern (siehe hier), fällt - bitte ausdrücklich! - nicht unter meine Kritik am Soll'-Verfahren. Bei Ihnen sehe ich nur einen immensen Aufwand für etwas, das gar nicht erforderlich ist, ferner ein, vielleicht nur unglückliches Umgehen mit dem Wort "hypothetisch", das dort, wo der Abgleich mit dem Ist, die Konkretisierung der Modifikation, gefragt ist. Insgesamt dürften Sie aber nahe an das Konkrete herankommen.

Zum Ganzen mögen Sie sich, liebe Leser:innen, herzlich zur Lektüre - und dem Gedanken fließen lassen - eingeladen fühlen. Vielleicht zwischen den Jahren?
Drittler, Nachträge und Nachtragsprüfung, 4. Auflage 2023, Werner Verlag
Kapitel 4.6.2, Rn. 4:358 ff., "Nachweis der vom BGH so genannten "weiteren Folgen" für den Bauablauf - Kausalitätsnachweis Bauzeit als Kernstück eines Bauzeitnachtrags", darunter insbesondere
Kapitel 4.6.3, Rn. 4:436 ff., "Bauzeitnachtrag 2.0": Ein auf der Rechtsprechung des BGH aufbauendes Verfahren zum Nachweis der tatsächlichen (konkreten) Anteile der Vertragsseiten an einer behinderungsveranlassten Bauzeitverlängerung
Rn. 4:474 ff., Beispiel

Ich wünsche allen Leser:innen eine FROHE WEIHNACHT.



Dr.-Ing. Matthias Drittler
(erstellt am 25.12.2023 um 17:59 Uhr)

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